09 September 2012

Brief an eine Freundin

Danke liebe Nelly für die vielen Steinefotos - sehr interessant dein Hinweis auf das meist vergrößerte rechte Mutterauge...

...über die rechts-links Symbolik habe ich vor einiger Zeit schon angefangen nachzudenken...
 

Spontan fragte ich mich auch, warum wir von links nach rechts lesen und von oben nach unten und in anderen Kulturen von rechts nach links also für uns von hinten nach vorn? Die meisten Zeitschriften und manche Bücher, besonders wenn sie bebildert sind, schlage ich allerdings auch automatisch hinten auf.

Als meine beiden jüngeren Kinder klein waren, fühlte ich regelrecht, wie mir die typischen Muttersensoren zu wachsen begannen. Meine Sinne wurden immer schärfer und mir kam es vor, als hätte ich rundum Augen und Ohren und damit deckte ich die notwendige Überwachung im Nahbereich ab. Dafür interessierten mich andere Ereignisse, die mich und mein Kind nur mittelbar betrafen grad überhaupt nicht. Ich würde sagen der Schutz des Kindes hatte höchste Priorität und ich musste um so wachsamer sein, da ich allein Tag für Tag über mehre Stunden für diesen Schutz garantierte.

Die beiden ersten Kinder habe ich in dem Zusammenhang ganz anders wahrgenommen. Wie ich dir schon erzählte, hatte ich in deren Kleinkindzeit fast täglich meine Mutter an meiner Seite. Diese Zeit habe ich wesentlich entspannter in Erinnerung.
Und es ist interessant zu erwähnen, dass später die zurückgestellten Subroutinen sofort alle wieder anliefen, als ich mit meinen Kindeskindern zu tun hatte.

Wenn ich mich in die frühen Tage des Mutterseins hineinversetze (je Kind bis drei Jahre), so entsteht bei mir noch nachträglich der Eindruck, dass ich in der Wahrnehmung „halbiert“ war. Mit der linken Wahrnehmungssphäre habe ich meine alltägliche Hausarbeit verfolgt und die Umgebung beobachtete (vor allem Auge und Gehör) und rechts lief die Dauerwahrnehmung der Kindersignale. Ich habe heute noch das Gefühl, dass ich mit dem rechten Auge um mich herum sehen kann und mitbekomme, was hinter mir vorgeht, wenn ich nicht zu sehr abgelenkt bin. Ich nehme an, aus dieser Erfahrungsquelle stammt auch die Multitasking – Legende. Ich habe allerdings auch (junge) Mütter erlebt, die sich genervt von dieser angeblichen Forderung an das klassische Mutterbild abwendeten und dass sie versucht waren, die sie umgebenden Kinder immer wieder überfordert "wegzuschieben“. Denn wir wissen ja, eine Frau - eine Mutter - allein in der Verantwortung zu ihrem Kind ist die unnatürlichste Sache der Welt. Eine Frau und ein Mann allein mit Kindern ist die zweit unnatürlichste Sache der Welt. 


Der in unserer Kultur mangelnde Angehörigen - Background stellt nochmal zusätzliche Anforderungen an unser urzeitliches Muttergehirn. Die Sinne einer Frau / Mutter sind natürlich individuell verschieden ausgeprägt und gehen daher auch mit verschiedenen Herausforderungen differnziert um, unser modernes Leben stresst Mutter und Kind allerdings aber auch auf eine unterschwellige Art, die sicher zu epigenetischen Veränderungen führt - wir scheinen ja schon gar nicht mehr zu wissen, dass wir Gemeinschaftswesen sind.

Als meine jüngste Tochter geboren wurde zählte ich bereits 31 Jahre. Dass heißt nach Urzeitrechnug bin ich quasi bereits ins Großmutteralter eingetreten. Meine anderen Kinder waren zu dem Zeitpunkt achteinhalb, siebeneinhalb und zweieinhalb. Während das tollkühne Söhnchen noch unter die Permanent - Überwachung fiel, gingen die beiden Großen bereits zur Schule. Ich konnte also zumindest am Vormittag meine einsame (rechte) mütterliche Konzentration den Kleinen angedeihen lassen. In einer großen Wohnung (fünf große Zimmer, Küche, Bad, Toilette, Flur, Balkon, internes Treppenhaus) und das wohlgemerkt allein. Es gab keine anderen Paar Augen und Ohren, die mit verfolgten ob das Baby schrie, weil der Bruder ihm wieder Matchboxautos ins Körbchen geschmissen hatte (er hat schon immer gern geteilt). Und allein in dem langen L- förmigen Flur gab es mindesten fünf Ecken in denen er sich verkriechen konnte, eine Zeitlang musste ich ihn ständig suchen.

Wenn ich ein Auge zukneife um besser sehen zu können ist es immer das linke und manchmal denke ich auch, mein Muttersein hat meine analytische Wahrnehmung noch verstärkt. „Die linke Gehirnhälfte steht für Präzisionsarbeit und die rechte Hälfte hat den Überblick...“ ist ein Zitat aus dem Internet. Die Konzentration auf die rechte Seite ist in unserer Kultur sehr verbreitet und zeitweise war sie sogar eine rechte Manie – wo ist das schöne Händchen? 


Eine meiner Töchter ist Linkshänderin und schreibt rechts – wurde ihr in der Schule antrainiert – fast alles andere macht sie mit links. Aber es ist ja ohnehin so, dass immer alle Komponenten zusammenwirken und der individuellen Körper für einen Ausgleich sorgt. Das Muttergehirn ist jedenfalls genetisch darauf ausgelegt, mit verschiedensten Problemen fertig zu werden, allerdings scheint es, als wäre es in der Neuzeit immer wieder überfordert, da es absolut nicht auf Alleingang ausgelegt ist. 

Die unnatürlichen und stressige Einsamkeit der heutigen Mütter schärft demnach vielleicht die weiblichen Sinne, während die des Mannes immer mehr verkümmern, da er schon lange seine hochkomplexe Wahrnehmung immer mehr von seinen Aufgabe innerhalb der Schutzsphäre des (Sippen)Nachwuchs abzieht.

Mir erscheint also, liebe Nelly, die Betonung des rechten Mutter-Auges bei den Artefakten kommt nicht von ungefähr und ist auch heute noch von einer nicht unerheblichen Bedeutung...

03 September 2012

...macht Probleme übersehen dumm?

... gestern habe ich mir natürlich die neue Sendung von Richard David Precht angesehen. Das Gespräch mit Gerald Hüther war recht interessant, obwohl ich den Eindruck hatte und das ist jetzt sehr freundlich ausgedrückt, zu sehr wollten sich beide nicht aus dem Fenster lehnen. Denn die Sendung hieß nicht "...ist Schule dumm?" sondern "Macht Lernen dumm?" und damit blieb der Titel recht unklar, denn Lernen ist eine komplexe Angelegeheit und nicht nur auf die Schule bezogen.

Aber trotzdem hoffe ich nach wie vor, dass im Hinblick auf Schule sich endlich ein ernsthafter kollektiver Änderungswille Bahn bricht.

Das Thema Schule reizt mich ja immer zu ein paar reflektierenden Gedanken und löst selbstredend erinnerte Gefühle an eigene Schulzeit aus. Und diese Art der Erinnerungen sind nicht nur glückliche...

Bildung, Schule – war lange eine Angelegenheit der privilegierten Bevölkerungsschicht und ist heute noch auf der Welt gerade für Mädchen, nicht immer selbstverständlich.

Der Stolz ein flächendeckendes Schulsystem zu gewähren, war von Seiten der Politiker wahrscheinlich schon immer größer, als die Einsicht in die Notwendigkeit, endlich einem jeden Kind ein individuelles Lernen zu ermöglichen. Noch als ich in die Schule kam wurde mir immer wieder klar gemacht, dass der Arbeiter- und Bauernstaat es mir ermöglichte in der Schule zu lernen und gegebenenfalls auch später zu studieren und dafür sollten alle dankbar sein. Dass es im zukünftigen Interesse Aller liegt, einen gut ausgebildeten Nachwuchs zu haben wurde weniger thematisiert. Was allerdings das Lernen betraf, da rannte man bei mir offene Türen ein. Gelernt habe ich schon immer gern und tue es heute noch, den Aufenthalt in der Schule jedoch fand ich durchweg mühsam und größtenteils unerfreulich.

Die soziale (dörfliche) Hackordnung in der Klasse machte mir zu schaffen und ich steuerte dem durch gute Noten entgegen, was die Sache jedoch nicht immer besser machte. Ich hätte viel lieber ohne intrigierende Klassenkameradinnen und raufende Klassenkameraden gelernt und ohne die von oben verordnete, verkrampfte sozialistische Gehirnwäsche. Aber wie sagte fünfundzwanzig Jahre später der westdeutsche Rektor der Realschule in die mein Sohn damals ging: „Schule ist Schicksal“.

Und so wird Schule von den meisten immer noch irgendwie gesehen, als unabwendbares Schicksal. Denn die Bedingungen unter denen Kinder in diesen Gettos der nicht-artgerechten Menschenhaltung lernen müssen, sind unglaublich vielen verschiedenen Zufällen unterworfen und das einzelne Kind ist dem in der Regel einfach ausgeliefert.

Zwar gehen die meisten scheinbar unbeschadet aus ihrer Schulzeit hervor, aber der organisierte Massenbetrieb hinter den Zäunen des separierten Schulgeländes ist so was von nicht artgerecht, dass ich gar nicht begreifen kann, wie wenig das den beteiligten Erwachsenen auffällt. Natürlich gibt es immer auch Einzelschicksale, da rettet die neutrale Zone der Schule Kinder vor anderweitig stattfindender Vernachlässigung und sie sorgt auch für eine nicht unbedeutende
kollektive Formatierung im Verhaltenskodex. Das Kind mit der großen Klappe wird auch mal vom hohen Ross herunter geholt, das allzu schüchterne ermuntert aufzusteigen.

Denn nicht der zugegebenermaßen oft überflüssige Lernstoff ist das Problem, ich würde sagen er ist überhaupt das geringste Probleme, sondern die ungeborgene, kahle soziale Sphäre, in
die sich das Kind integrieren muss. Denn trotz des dreijährigem Kindergarten-Trainingslager stellt die Schule völlig andere Anforderungen an das arglose sechsjährige Schulkind.

Es muss sich wiederum allein mehrere Stunden am Tag mit bisher völlig neuen Forderungen wie Wegen, Räumlichkeiten, Lichtverhältnissen, Geräuschen, kleinen und größeren Gefahren (auch nur scheinbaren) sowie vielen fremden Menschen auseinandersetzen. Es gibt natürlich immer wieder Kinder denen das nichts auszumachen scheint, für einige jedoch ist das der Auftakt zu einem nicht enden wollenden Stress.

Eine meiner Enkeltöchter wollte damals nicht in die Schule, weil das kluge Kind sich vorstellen konnte, dass für sie damit eine Zeit begann, in der sie permanent nicht mehr in Ruhe gelassen würde. Und für sie, die sich heute noch gern zurückzieht und als Dreijährige schon konzentriert malte und bastelte und mehrmals am Tag mit ihren Kunstwerken Mutter und Großmutter überraschte, unterbricht die Schule mit ihrem verordneten Tätigkeits-Ruhe-Rhythmus immer wieder fremdbestimmend jeden kreativen Fluss.

In diesem Enkelkind glaube ich, habe ich mich besonders stark wiedergefunden. Ich war einst ein stilles kleines Mädchen, so eine Art weiblicher Mini-Nerd und außer Erdkunde (lag wohl an der Lehrerin) hatte ich mit keinem Fach wirkliche Schwierigkeiten. Die Anforderungen meiner Dorfschule hielten sich für mich in Grenzen und das meiste habe ich mit links erledigt. Die neunte und zehnte Klasse im Nachbarort stellte auch nur bedingt eine intellektuelle Herausforderung dar, aber alles andere war eine verdammte Plage. Allein das frühe Aufstehen, um danach eine Stunde mit dem Schulbus über die Dörfer zu kurven, der überall die Schüler einsammelte, damit um 7.15 Uhr der Unterricht beginnen konnte.


Die (überwiegend männlichen) Lehrer legten einen unerfreulichen Ehrgeiz an den Tag, da sie den Landpomeranzen aus den umliegenden Dorfschulen erst einmal zeigen wollten, wo es wirklich langgeht. Dieses Imponiergehabe stressten mich doch sehr, denn mir ging es nur um den Input. Der Lärmpegel in den Pausen, das Geschubse und Gedränge in Fluren, die Fülle an neuen Gesichtern, erzeugte in mir ein ständiges Auf-der-Hut-sein. Macht sich denn überhaupt jemand darüber Gedanken, was diese tägliche Massenveranstaltung in einer normalen, gut geführten Schule mit unseren Steinzeitgehirnen macht? Und was erst in einer Problemschule?

Meine vier Kinder gingen anfangs in einer größeren Stadt (Erfurt), später teilweise im gemütlichen Lüneburg zur Schule. Von meinen zehn Kindeskindern sind bereits acht Schulkinder und die älteste wird in diesem Schuljahr ihr Abitur machen. Zusätzlich zu einem Schultag und nicht enden wollenden Hausaufgaben, hetzen alle noch am Nachmittag zu all den außerschulischen Ergänzungen, um ihre wirklichen Begabungen nicht vollends verkümmern zu lassen. Und ich denke oft, was doch für eine unglaubliche Verhinderung an Kreativität bzw. Verschwendung an kindlichem Potential im normalen Schulalltag stattfindet.

Aber vielleicht seid ihr ja gern und dankbar in die Schule gegangen...