12 Juni 2015

... bei mir sein...

Wir wissen ja was eine Übersprunghandlung ist - oder? Übersprungshandlungen entstehen, wenn man z.B. emotional in einer Zwickmühle steckt, sich unbewusst daraus befreien möchte, sich aber der Situation nicht wirklich stellen will. Es kommt zu einer Art unwillkürlichen (Körper)Reaktion, frau macht abrupt etwas anderes. Sie greift auf bewährte Strategien der Ablenkung zurück (eine Zeitlang fing ich immer unvermittelt an den Geschirrspüler ein- oder auszuräumen – jetzt bin ich weiter... ich habe keinen Geschirrspüler mehr ;-)) ...oder sie wechselt so offensichtlich das Thema, dass es, auch ohne es direkt zu benennen, für alle klar wird: ich will hier raus... ich halte das jetzt hier nicht mehr aus...
frau kann sich auf die, sich entwickelnde, Situation nicht mehr einlassen, möchte dieses Terrain nicht weiter betreten und es kommt zu (unbewussten) Verlagerungsreaktionen. Offene oder diffuse Konflikte werden so vermieden, Entscheidungen vertagt, eigenes Unbehagen zugeschüttet. Offensichtlich ist es, wenn jemand im Gespräch, manchmal mitten im Satz der Gesprächspartnerin, aufspringt und sagt: jetzt muss ich aber wirklich gehen ... bis bald, wir sehen uns!
Der gefühlsmäßige Wechsel, das Hin- und Herspringen, ausgelöst durch emotionale Überflutung, führt bei so mancher regelmäßig zu dem bekannten 'nicht aushalten können', zu einem nicht im Hier und Jetzt sein wollen. Das kann von anderen Gesprächsteilnehmerinnen auch mit der Bemerkung kommentiert werden: bleib doch mal dabei, bleib doch mal bei dir! Diese Art des „Bei-sich-bleiben“ meint nicht das uns antrainierte Unbewusstsein und schon gar keinen äußeren Zustand, in den ich mich zurückziehe und damit separiere.
Das 'Bei-mir-sein' ist meine (innere) Verfassung, meine bewusst wahrgenommene Befindlichkeit, meine mich selbst reflektierende und im Äußeren eine akzeptierende Wahrnehmung.
In unserem Kulturkreis sind wir gewohnt mit einer (psychische) Befindlichkeit zu leben, die sich mir als eine destruktive (Dauer)Anpassungsleistung darstellt und die ausgelöst durch die Dressurleistung unser Erzieher, nachhaltig unsere Empfindungen manipuliert. Bemüht die Forderungen anderer zu bedienen, taumelt das unbewusste Ich durch den patriarchösen Alltag, eifernd die Erfüllung der Wünsche all der Über-Ichs umzusetzen, die seit unserer Kindheit in uns wohnen. Da wäre das 'ja nicht Auffallen wollen' und das 'nicht 'aus der Reihe tanzen' oder die Suche nach dem Prinzen fürs Leben. So manche Dauerrebellin behauptet gern an dieser Stelle: ich habe mich immer aufgelehnt und mir nie was gefallen lassen... aber dieses 'gegen alles sein' was mich umgibt und an mich herangetragen wird, heißt noch lange nicht, dass ich deshalb 'bei mir bin'. Vor lauter Rebellion wird meist vergessen zu fragen: Wer bin denn ich? Welche wunderbare Frau steckte bereits in mir, bevor das Patriarchat und seine Erziehungsmethoden über mein prägsames Kinderhirn und wehrlosen Körper herfielen? Bevor ich dem Frauenbild der aktuellen Kultur einverleibt wurde und ich dem kollektiven Stockholmsyndrom anheimfiel?
'Bei mir sein' ist die abgeschlossene Suche nach mir selbst, der nicht immer leichte Weg in meine bewusste Mitte - das Ankommen im Kern der Weiblichkeit. Wenn ich bei mir bin, sehe ich klar und auch besonders das, was mich umgibt. Wenn ich aufgehört habe mir selbst etwas vorzumachen, können es die anderen auch nicht mehr. ich bin ganz bei mir ohne die Welt aus allen meinen Sinnen zu verlieren.
Kinder sind ein gutes Beispiel für diese Form der Aufmerksamkeit - im Spiel versunken sind sie ganz bei sich und ihrem Tun, aber sie merken sofort, wenn die Mama den Raum verlässt, auch wenn diese noch so leise ist. Der Instinkt des Kontinuums ist immer wach und ich bin sein Mittelpunkt. Die energetische Verbundenheit in der geborgenen Welt, die uns als Gruppenwesen angeboren ist, musste erst systematisch zerstört werden, um uns an die einsame, die ungeborgene Welt der Patriarchose anzupassen.
Wir durchliefen die Phasen, in denen wir lernten unseren Sinnen nicht zu trauen, unseren Schmerz nicht zu fühlen, unsere Einsamkeit nicht mehr wahrzunehmen. Dieser unnatürliche Prozess führte uns von uns weg. Seitdem sind wir auf der ewige Suche nach uns selbst und unserer Rückbindung an die Geborgenheit der Mütterlichkeit. Wir sind kollektiv auf der Suche nach dem Anschluss an das weibliche Energiefeld, das aus Zugehörigkeit und Fürsorge erwächst und nicht im Abgetrenntsein und in der Beliebigkeit entsteht.
Gestern hatte ich ein Gespräch mit einer Freundin, die auch zu den Frauen gehört, die ihren Weg zu sich selbst ohne ihre Mutter zurücklegen musste, da diese das eheliche Geiseltum, das ihre Geisteshaltung prägt, nicht verlassen kann oder will (und dazu muss der Ehemann nicht einmal mehr am Leben sein). Aber diese Freundin hat andere Unterstützung auf dem Weg in ihre Mitte z.B. eine Tochter, eine Enkeltochter... so etwas kann sehr hilfreich sein, um bei sich selbst anzukommen...
denn ich kann meinen Platz in der Gesellschaft nur einnehmen, wenn ich weiß, wer ich bin und wenn ich auf meiner Seite stehe... also: bei mir bin!



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